Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften zur Telekommunikationsüberwachung

Gericht

BVerfG

Datum

12.10.2011

Aktenzeichen

2 BvR 236/08 u.a.

Branche/ Lebenslage

  • TKÜ,
  • Verfassungsmäßigkeit,
  • strafprozessuale verdeckte Ermittlungsmaßnahme,
  • Telekommunikationsüberwachung

Akteure

  • Beschwerdeführer,
  • Gesetzgeber

Wer haftet?

  • Die Neuregelungen zur strafprozessualen Überwachung der Telekommunikation sind verfassungsgemäß

Haftungsart

Haftungsumfang

Haftungsbegründendes Verhalten

Der Anlass einer Telekommunikationsüberwachung muss gesetzlich geregelt sein. Eine veranlassende Straftat muss als schwer eingestuft werden können

Technische Umstände

Persönliche Umstände

Möglichkeiten der Haftungsvermeidung

Die, eine Telekommunikationsüberwachung veranlassende, Straftat muss auch im Einzelfall schwer wiegen.

Zitate, Zusammenfassende Würdigung, Strategien zur Haftungsvermeidung

Das BVerfG hatte sich im Rahmen dieser Verfassungsbeschwerde mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“ (am 1.1.2008 in Kraft getreten) verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügte. Unter anderem wurde durch das Gesetz § 100a StPO zur Telekommunikationsüberwachung neu gefasst. Dort hat der Gesetzgeber insbesondere den, eine Maßnahme rechtfertigenden Katalog der Anlasstaten geändert, sowie den Umgang mit Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung geregelt.

Das Gericht ging von der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes aus:

Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit zulässig, nicht begründet. Die angegriffenen Vorschriften verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihren Grundrechten.

Eine gesetzliche Ermächtigung zu einer Überwachungsmaßnahme, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren kann, hat so weitgehend wie möglich sicherzustellen, dass Daten mit Kernbereichsbezug nicht erhoben werden.

Ergibt die Durchsicht, dass kernbereichsrelevante Inhalte erhoben wurden, sind diese unverzüglich zu löschen; eine Weitergabe oder sonstige Verwendung ist auszuschließen.

Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer müssen Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen aber nicht schon deshalb von vornherein unterlassen werden, weil auch Tatsachen miterfasst werden, die auch den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts berühren. Ein entsprechendes umfassendes Erhebungsverbot würde die Telekommunikationsüberwachung in einem Maße einschränken, dass eine wirksame Strafverfolgung gerade im Bereich schwerer und schwerster Kriminalität nicht mehr gewährleistet wäre. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist in diesen Fällen durch einen hinreichenden Grundrechtsschutz in der Auswertungsphase sicherzustellen.

Obgleich das Gericht grundsätzlich erst dann von einer Verfassungsmäßigkeit der Überwachungsmaßnahme ausging, wenn dem Betroffenen durch Benachrichtigung über die durchgeführte Maßnahme eine gerichtliche Überprüfung ermöglicht werde, nahm es auch an, dass bei entsprechenden Gründen von überwiegender Wichtigkeit auch Ausnahmen geregelt werden könnten:

Ausnahmen von der Benachrichtigungspflicht (über verdeckte Maßnahmen) kann der Gesetzgeber in Abwägung mit verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern Dritter vorsehen. Sie sind jedoch auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken.

Bei der Strafverfolgung sind Ausnahmen von den Benachrichtigungspflichten denkbar, wenn beispielsweise die Kenntnis des Eingriffs in das Telekommunikationsgeheimnis dazu führen würde, dass dieser seinen Zweck verfehlt, wenn die Benachrichtigung nicht ohne Gefährdung von Leib und Leben einer Person geschehen kann oder wenn ihr überwiegende Belange einer betroffenen Person entgegenstehen, etwa weil durch die Benachrichtigung von einer Maßnahme, die keine weiteren Folgen gehabt hat, der Grundrechtseingriff noch vertieft würde.

ANMERKUNGEN

Das Gericht hatte die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen bestätigt:

  1. Dem Betroffenen muss möglich sein, nach verdeckten Ermittlungen hiervon persönlich Kenntnis zu nehmen, um die Maßnahmen gerichtlich kontrollieren lassen zu können. Unter bestimmten Umständen kann von der Benachrichtigung jedoch abgesehen werden. Das ist der Fall, wenn zu erwarten ist, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht die Voraussetzungen für eine Benachrichtigung vorliegen werden, wenn also z.B. überwiegende schutzwürdige Belange einer anderen, von der Maßnahme ebenfalls betroffenen Person, einer Benachrichtigung entgegenstehen. Im Übrigen muss es sich hierbei auch nach Gesetz um eine richterliche Entscheidung handeln.
  2. Der Eingriff durch § 100a StPO in das Fernmeldegeheimnis, Art. 10 GG, ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Aufgrund des Beurteilungsspielraums bei der Bestimmung des Unrechtsgehalts eines Delikts (§ 100a Abs. 2 StPO) ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis setzen die Qualifizierung einer Straftat als schwer voraus. Der neu geregelte Katalog der Anlasstaten genügt diesen Anforderungen.
  3. Die Vorkehrungen des § 100a Abs. 4 StPO zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bei der Telekommunikationsüberwachung genügen sowohl in der Erhebungs- als auch der Auswertungsphase den verfassungsrechtlichen Anforderungen. So ist grundsätzlich sicherzustellen, dass Daten mit Kernbereichsbezug nicht erhoben werden. Eine Ausnahme gilt dann, wenn gerade diese Inhalte mit anderen Inhalten verknüpft werden, um eine Überwachung zu verhindern. Hier hat der ausreichende Schutz in der Auswertungsphase zu erfolgen, insbesondere sind Inhalte mit Kernbereichsbezug unverzüglich nach deren Erkennen zu löschen. § 100a Abs. 4 StPO regelt eine Dokumentations- und Löschpflicht, sowie ein Verwertungsverbot. Das Gericht betonte insbesondere die praktischen Implikationen des Kernbereichsschutzes. So sei in der Erhebungsphase zunächst nicht sofort zu unterscheiden, welche Inhalte dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfielen und welche nicht. Bei zu umfangreicher Unterbrechung von Überwachungsmaßnahmen bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass wichtige Inhalte für die Ermittlungsmaßnahmen nicht erfasst würden, was die Wirksamkeit der Maßnahme im Bereich der Schwerstkriminalität zu stark beeinträchtigen würde.
  4. Insbesondere fordert die Verfassung nicht, dass eine weitere unabhängige Stelle als die Ermittlungsbehörden über die Verwertbarkeit der erfassten Kommunikationsdaten entscheidet.

Schreiben Sie einen Kommentar